Studie zu Anwendungsfällen von Autonomen Maritimen Systemen

Beitrag zur Erhebung der Grundlagen für eine strategische Koordination zum internationalen Wissens- und Technologietransfer.
17.03.2022
Philipp Dörr

Philipp Dörr

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Telefon: +49 40 9999 698 – 89
E-Mail: Doerr[at]dmz-maritim.de

Kapt. Runa Jörgens

Kapt. Runa Jörgens

Leiterin Themen und Projekte/Referentin Schifffahrt

Telefon: +49 40 9999 698 - 71
E-Mail: Joergens[at]dmz-maritim.de

Einleitung – Bedarf und Motivation zur Durchführung einer internationalen Umfeldanalyse

2018 antwortete die Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP zum Thema „Automatisierung von Schiffen“, dass ihrer Einschätzung nach „hoch automatisierte, ferngesteuerte oder voll autonom fahrende Schiffe und Systeme schrittweise den Weg in die Anwendungen finden“ werden.¹

Diese Aussage wird durch die Entwicklung in Forschung, Entwicklung und Innovation (F,E&I) über die letzten drei Jahre gestützt. International fahren die ersten Prototypen autonomer Schiffe wie zum Beispiel von MASSTERLY betriebene Containerschiff Yara Birkeland auf dem Trondheim-Fjord (Norwegen) oder das von IBM betriebene Forschungsschiff MAS400 in Großbritannien.

Im Positionspapier zu Autonomen Maritimen Systemen (AMS) fordert die Deutsche Gesellschaft für Ortung und Navigation (DGON), „[…] in diversen Aktions- und Themenfeldern […] die Politik bei der Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen zu unterstützen, die eine erfolgreiche Entwicklung dieser bedeutsamen maritimen Kernkompetenz für die Zukunft in Deutschland sicherstellen.“²

Das Deutsche Maritime Zentrum möchte mit der im Sommer 2021 beauftragten Studie „Internationale Umfeldanalyse zu Anwendungsfällen von Autonomen Maritimen Systemen“ die Grundlage für eine strategische Koordination zum internationalen Wissens- und Technologietransfer schaffen sowie zur Entwicklung und Förderung von Anwendungsfällen im Sinne ganzheitlicher Schiffsentwürfe von AMS auf nationaler Ebene beitragen.

Ziel der Studie

Die internationale Umfeldanalyse hat zum Ziel AMS-Projekte zu erfassen und zu dokumentieren sowie deren Eigenschaften und Rahmenbedingungen zu analysieren und zu bewerten. In der Studie sollen Anwendungsfälle von AMS erörtert und hinsichtlich ihrer technischen Machbarkeit, ihres ökonomischen Potenzials, ihrer ökologischen und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz untersucht und bewertet werden. Zudem sollen Handlungsempfehlungen entwickelt werden, um einen internationalen Technologietransfer zu initiieren sowie nationale F,E&I bestimmter Anwendungsfälle von AMS zu ermöglichen, zu fördern und auf unterschiedlichen Entscheidungsebenen zu begleiten.

Ergebnisse/Vorgehensweise

Internationale Projektumschau zum Wissenstransfer

Im ersten Schritt der Studie wurden AMS-Projekte weltweit recherchiert. Es wurden mehr als 340 Projekte aus F,E&I gesichtet und ausgewertet. 94 dieser Projekte wurden als potenziell relevant bewertet, 35 davon wiederum als maßgebend hinsichtlich der Kriterien „ganzheitlicher Schiffsentwurf“ und „Ziel der Vollautonomie“ erkannt. Diese 35 Projekte wurden einem qualitativen Ranking unterzogen, in das u.a. das Technology Readiness Level, die Schiffsgröße und das geplante Einsatzgebiet mit einbezogen wurden. Die 25 Projekte mit der höchsten Bewertung wurden in einen Projektkatalog überführt [siehe unten], in dem die einzelnen Projekte mit ihrer Zielausrichtung, Infografiken zu Schlüsselfaktoren wie Abmessungen, Antriebsart und Fördersumme sowie einer Kurzbeschreibung darstellt werden.

Um den Status quo von AMS in Deutschland im internationalen Vergleich zu bestimmen, wurde auf Grundlage des Projektkatalogs eine erweiterte Länder- und Projektanalyse durchgeführt. Hierfür wurden die F,E&I-begünstigenden Faktoren in einer länderbasierten Auswertung der politischen, ökonomischen, sozialen, ökologischen und rechtlichen (PESTEL) Rahmenbedingungen für die technologieführenden Nationen China, Deutschland, Niederlande, Norwegen und den USA erörtert. Die erweiterte Analyse ergab, dass Deutschland, gemessen an der Anzahl von AMS-Projekten, mit den technologisch führenden Nationen im diesem Bereich mithalten kann. Die indikatorbasierte PESTEL-Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik in allen Belangen überdurchschnittlich abschneidet, so dass grundsätzlich keine Innovationshindernisse bei der Entwicklung von AMS bestehen. Deutschlands Spezialschiffbaubranche ist international führend, zusätzlich bietet das bestehende Binnen- und Seewasserstraßennetz eine Vielzahl potenzieller Anwendungsfälle, so dass eine Technologieführerschaft auch im AMS-Bereich möglich wäre.

Expert*innen-Befragung zur Beurteilung der Realisierungswahrscheinlichkeit von AMS-Anwendungsfällen

In Expert*innen-Befragungen wurde die Realisierungswahrscheinlichkeit der jeweiligen Anwendungsfälle untersucht und beurteilt. Zunächst wurden übergeordnete, abstrakte Anwendungsfälle zu AMS entwickelt, anschließend wurde deren Bewertung methodisch vorbereitet. Hierzu wurde ein Informationspapier der DGON als Grundlage verwendet. Es wurden Anwendungsfälle in nahezu allen Bereichen (Aufgaben im Transport von Waren und Personen, Aufgaben der Exploration, hoheitliche Aufgaben etc.) sowie für fast alle Einsatzgebiete (See-, Küsten- und Binnenschifffahrt, Hafenbereich, städtische Bereiche etc.), Einsatzrouten und -dauern entwickelt.

Es wurde Bewertungen in fünf verschiedenen Clustern vorgenommen: Technologie, Sicherheit, Ökonomie, Gesellschaft und Ökologie. Innerhalb der Cluster wurden Bewertungskriterien definiert, z.B. Technologiepotenzial, rechtlicher Rahmen, gesellschaftliche Akzeptanz, Wirtschaftlichkeit und Beitrag zur Nachhaltigkeit. Zu den Kriterien wurden Thesen und Fragestellungen formuliert, deren Eintrittswahrscheinlichkeit von Expert*innen in einem zweistufigen Befragungsverfahren bewertet wurden.

Für die erste Befragungsstufe wurden, insbesondere im Bereich der Sicherheit, verschiedene „Knock-Out“ Kriterien definiert. Wurde die Realisierungswahrscheinlichkeit dieser Kriterien mit „gering“ bewertet, wurde eine weitere Betrachtung des Anwendungsfalls innerhalb der Studie ausgeschlossen. Ziel der ersten Befragungsstufe war es, die Gesamtanzahl der zu bewertenden Anwendungsfälle zu reduzieren. Im Ergebnis der ersten Befragungsstufe wurden sämtliche Anwendungsfälle mit „weltweitem Einsatzgebiet“ aufgrund hoher technischer Hürden als „nicht wahrscheinlich“ ausgeschlossen.

Die verbliebenen 14 Anwendungsfälle wurde ausgewählten Expert*innen aus den Bereichen Technologie, Sicherheit, Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie zur Bewertung in einer zweiten, anonymisierten Befragung vorgelegt. Im Ergebnis lagen die Realisierungswahrscheinlichkeiten der bewerteten Anwendungsfälle sehr dicht beieinander. Es wurde jedoch deutlich, dass vor allem Anwendungsfälle mit geplanten Tracks und regionalen Einsatzgebieten (z.B. Forschung, Vermessung oder Bekämpfung von Gewässerverschmutzung) als wahrscheinlicher in der Realisierung bewertet wurden. Anwendungsfälle im Gütertransport im regionalen Bereich oder im Binnenbereich wurden dagegen als mit Herausforderungen belegt bewertet. Im Kriterien-Cluster Ökonomie zeigte sich eine vorwiegend pessimistische Haltung der Expert*innen, wohingegen die Meinung im Technologiebereich deutlich optimistisch geprägt war.

Empfängerorientierte Handlungsoptionen

Die Ergebnisse der Expert*innen-Befragung wurden aufbereitet und Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken (SWOT) aus deutscher F,E&I-Perspektive analysiert und bewertet. Anhand der SWOT-Analyse wurden Handlungsoptionen erörtert, um Stärken und Chancen optimal nutzen sowie Schwächen und Risiken vermeiden zu können. Um die Handlungsoptionen darüber hinaus bestmöglich an Schlüsselpositionen zu adressieren, wurde eine Stakeholder-Analyse durchgeführt. Von Politik über Administration bis zu Wirtschaft und Wissenschaft wurden sämtliche Stakeholder im Kontext AMS diskutiert und ihnen eine bestimmte Rolle zur Gestaltung zugeordnet.

  • Es sollte als Mittel der Steuerung seitens der Politik eine nationale Strategie entwickelt werden, die unter Einbeziehung aller relevanten Akteure die Markt- und Technologieentwicklung, entsprechende Regularien und gesellschaftliche Akzeptanz sicherstellt.
  • Das Thema Autonome Schifffahrt und deren nachhaltige Entwicklung sollte in einen gemeinsamen Kontext gestellt werden. Neben der Verantwortung von Industrie und Wirtschaft für diese notwendige Transformationen der Geschäftsmodelle in den nächsten Jahren, muss auch die Verwaltung tätig werden, indem sie Zulassung und Einsatz innovativer Technologien zeitnah und reibungslos ermöglicht.
  • Zur Stärkung des innovationsfreudigen Klimas in Deutschland sollten Verwaltung und Industrieverbände in den kommenden Jahren die Ausgestaltung von Normung und Standardisierung im Bereich AMS international eng begleiten und mitgestalten. Dies ist insbesondere wichtig, um den globalen Marktzugang für Technologie aus Deutschland sicherzustellen.
  • Auf Basis einer umfassenden Forschungsagenda, sollten in den Bereichen der Wissenschaft, Forschung und Entwicklung z.B. mittels passender Testfelder im realen und virtuellen Raum, marktnahe autonome Gesamtsysteme entwickelt und erprobt werden. Um mit dem rasanten Fortschreiten der Technologieentwicklung im internationalen Umfeld mithalten zu können, ist die agile Förderung entsprechender Projekte notwendig.
  • Darüber hinaus werden private und öffentliche Investitionen in bestehende und neuartige Infrastruktur notwendig sein. Hierbei stehen nicht nur originär maritime Infrastrukturen im Fokus, es gilt auch existierende multi-modale Logistikketten für autonome Verkehre zu gestalten. Staatliche Maßnahmen sollten sicherstellen, dass Investitionen keine Hindernisse für rechtzeitige Markteintritte nationaler Unternehmen darstellen.

Zusammenfassung und Ausblick

Autonome Maritime Systeme haben international seit langem den Schritt in die Anwendung gefunden. Vor allem die technologieführenden Nationen China, Deutschland, Niederlande, Norwegen und die USA sammeln derzeit in international führenden Pilotprojekten Erfahrungen mit AMS. Nahezu allen Projekten ist gemein, dass Automatisierung und unbemannter Betrieb von Schiffen mit wartungsarmen oder wartungsfreien Antrieben einhergehen. In dieser Kombination sind Chancen für einen sichereren, effizienteren und klimaneutralen Schiffsbetrieb zu erkennen. Risiken liegen derzeit im ökonomischen Bereich, da die Investitionskosten noch in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zu den Effekten durch Personaleinsparungen und Effizienzsteigerung stehen. Ein interessantes Potenzial liegt voraussichtlich in der Binnenschifffahrt, in der der Personalmangel aufgrund der demografischen Entwicklung den Einsatz autonomer Systeme notwendig machen könnte.

Die ersten industriellen und marktreifen Serienprodukte werden derzeit vor allem im Bereich Exploration und Monitoring entwickelt. Ein Beispiel hierfür ist Ocean-Infinity, die mit ihrer „Armada-Flotte“ automatisierte Messschiffe quasi „as-a-service“ anbietet und damit neue Geschäftsfelder für die maritime Wirtschaft erschließt.

1) Drucksache 19/337912.7.2018 2) DGON_2018_-_Positionspapier_zum_Thema_Autonome_Maritime_Systeme.pdf

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